100 Jahre im Dienste des Landvolkes

Am Laufe der das Elsass durchströmenden Ill gibt es grössere und reichere Dörfer als das bescheidene Matzenheim. Sie verdanken ihren Ruhm nicht zuletzt dem sprichwörtlichen Fleiss ihrer Landwirte und der Güte des von ihnen erzeugten Tabaks. Matzenheim aber, eines aus der Reihe, ist bis weit über die Grenzen des engeren Heimatlandes hinaus bekannt durch einen religiösen Lehrorden, der vor hundert Jahren hier seinen Sitz erwählte und durch sein Collège, das dort einer strebsamen Jugend seine Pforten öffnete. Im allgemeinen ist es den Städten vorbehalten, kulturelle Zentren zu sein und etwas von dem Geist, der in ihren Mauern wohnt, auf das Flachland ihrer Umgebung auszu­strahlen. Diese Regel schien keine Ausnahme zuzulassen, seitdem die über das Land zerstreuten Kloster und Adelssitze der grossen Revolu­tion zum Opfer gefallen waren. Es sollte nicht lange dauern, bis sich das Bedürfnis von neuem geltend machte, dem Landvolk die Möglich­keiten zur Weiterbildung und geisti­gen Entfaltung zu bieten. Die Mittel der Gemeinden reichten dazu nicht aus. Es war schon eine anerkennens­werte Leistung, dass sie alles taten, um sehr bald im Elsass ein gültiges, allgemeines Volksschulwesen aufzu­bauen. Der Staat begnügte sich lange Zeit damit, den höheren Unterricht in den Städten zu subventionieren. Aufgeschlossene Männer sahen sehr bald, dass es gelte, eine Brücke zwi­schen den Volksschulen und dem Sekundar-Unterricht auszufüllen, sollte das Landvolk, das Dreiviertel der Bevölkerung ausmachte, nicht geistig verarmen und selbst wirt­schaftlich ins Hintertreffen geraten. Zugleich war es klar geworden, dass die Landwirtschaft nicht nur mecha­nische Arbeit und die traditionelle bäuerliche Erfahrung verlangte, son­dern neue Bahnen beschreiten müsse, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. So wurde 1848 ein Gesetz erlassen, das die Errichtung von Landwirt­schaftsschulen auf dem flachen Lande befahl, ohne aber die entsprechenden Mittel bereitzustellen. Aus jener Zeit stammen mehrere Versuche, kleinere Landwirtschaftsschulen da und dort zu errichten. Ein Erfolg ist keinem dieser gut gemeinten Versuche be­schieden gewesen. Sie scheiterten vor allem daran, weil sie nicht wussten, dass Wissensvermittlung allein nicht genügt, sondern zugleich Bildung und Erziehung der jungen Menschen verlangt.
 
Solcher Aufgabe, die ein allgemei­nes Erziehungsideal voraussetzte, konnte nur die Kirche gerecht wer­den. Wohl hatte sie in der Revo­lution die materielle Grundlage, d. h. ihr Eigentum verloren. Sie löste aber in ihren eigenen Reihen Privat­initiativen aus, die sich von ihren pädagogischen Idealen nährten und in Zusammenarbeit mit dem Klerus zu gründen und aufzubauen be­gannen. In dieser relatif kurzen Zeit entstanden jene Kongregationen, die sich der Erziehung und der Kranken­pflege widmeten und sehr schnell zur Blüte gelangten. Die französischen Katholiken begannen jenes Kapitel des Freien-Schulwesens zu schreiben, das uns heute noch mit Stolz erfüllt.
 
Im Elsass sei vor allem auf die weiblichen Lehrkongregationen hin­gewiesen, die sich sehr schnell ent­wickelten. Mochten sie vor allem in den Elementarschulen der Dörfer und der Kleinstädte wirken, so dach­ten sie doch bald an die Errichtung von Pensionaten und Haushaltungs­schulen, um der erwachsenen Jugend vom Land die Möglichkeit einer Weiterbildung zu geben.
 
Die Errichtung des Collège von MATZENHEIM im Jahre 1862 liegt ganz in dieser Linie. Ein junger Geistlicher aus der reichen und ange­sehenen Familie der MERTIAN die dem Kloster der Rappoltsweiler Schwestern Pate gestanden hatte, kam 1844 in das kurz zuvor von einem Verwandten errichtete Waisenhaus WILLERHOF bei Hilsenheim. Dort fand er Kontakt mit der Jugend vom Lande und mit bäuerlicher Ar­beit. Hier erkannte er die dringende Notwendigkeit Lehrkräfte eigener Art heranzubilden, die ihr ganzes Leben der Jugenderziehung widmen. So entstand 1845 auf dem Willerhof die «Kongregation der Bruder von der Christlichen Lehre », die man später im Volksmund « die Matzen­heimer Brüder » nennen sollte.
 
Eugène MERTIAN, Gründer und erster Superior, dachte nicht nur daran, einzelne Volksschulen des Landes mit Lehrern zu beschicken, die zugleich Organisten und Mitar­beiter des Klerus sein sollten. Von Hilsenheim aus sah er die volkrei­chen Dörfer zwischen dem Rhein und den Vogesen, deren Jugend noch kaum die Möglichkeit zu einer Wei­terbildung geboten war. Unterneh­mungsvoll und aufgeschlossen wie wenig andere und den Zug der Zeit mit wachen Sinnen spürend errich­tete er 1856 in Hilsenheim eine mit einem Internat verbundene Land­wirtschaftsschule. Der Erfolg dieses « Pensionnat primaire agricole »übertraf bald seine eigenen Erwar­tungen. Bald waren es über 200 Schüler, denen an diesem Institut fachliches Wissen, menschliche Bildung und zugleich christliche Er­ziehung geboten wurden. Es gab im Lande und weit darüber hinaus kaum Schulen dieser Art. Eugène MERTIAN hatte hier eine Idee verwirk­licht, die für die Schulbeflissenen in den staatlichen Ministerien nur ein vages Projekt gewesen war.
Sehr bald erwiesen sich die Räume der von den Rappoltsweiler Schwe­stern zur Verfügung gestellten « Pro­vidence » als unzureichend. Ebenso war Hilsenheim allzu abgelegen, um als Sitz einer derart bedeutenden Schule dienen zu können. Von der harten Notwendigkeit getrieben hielt der noch junge Superior Umschau nach einem an der damals zwischen Mülhausen und Strassburg neu ge­bauten Eisenbahn gelegenen Orte. Sein Blick fiel auf Matzenheim, wo er 1861 die Gebäude der früheren Wirtschaft «Zu den zwei Schlüsseln» erwerben konnte. 1862 nahm er dieses altelsässische Fachwerkhaus in Besitz und legte so den Grundstein zu dem imposanten Werk des Matzenheimer Collège, dessen Jahr­hundertfeier wir festlich zu begehen allen Anlass haben.
 
Superior MERTIAN war ein Mann der wohl überlegten und der rasch und folgerichtig durchgeführten Tat. Dem nach Matzenheim verlegten No­viziat für die angehenden Lehrer gliederte er im folgenden Jahre schon Schulklassen für die Bauernsöhne aus der Umgegend an. Sie unterstanden der Leitung des später berühmt werdenden Frère Edouard Sitzmann, der sich als Historiker und vor allem als Autor des Sammelwerkes « Dic­tionnaire de Biographies des hommes célèbres de l’Alsace » einen Namen machte. 1865 erwarb er das Schloss der früheren Landgrafen von Werde an der nahen Ill. Er trat in Verbin­dung mit dem Pfarrer-Architekten Sébastien Meyer, der im Auftrag des Bischofs von Strasbourg das Seminar von Zillisheim baute, das man bald als einen kleinen Schulpalast bewun­dern sollte. Pfarrer Meyer zeichnete die Pläne zu einem weitaus beschei­deneren, aber im Geiste ähnlichen Bau in Matzenheim. 1869 grub man die Fundamente. Am 19. März 1870 wurde der Grundstein feierlich gelegt und das zu erbauende Haus dem Schutze des hl. Joseph anvertraut. Als im Juli 1870 der deutsch-französische Krieg ausbrach, waren die Arbeiten bis zum Dach gediehen. Trotz der Behinderung durch den Krieg konnte an Ostern 1871 das Pensionnat primaire agricole von Hilsenheim in das neue Gebäude von Matzenheim einziehen. Superior E. MERTIAN hatte sein Lebenswerk errichtet ohne zu ahnen, dass er es an die Schwelle eines Jahrhunderts stellte, das von Kriegen und Um­walzungen erfüllt und von tiefer Tragik besonders für seine eigene Heimat werden sollte
 
Die Annexion des Elsass durch das Deutsche Reich war für die Matzen­heimer Brüder ein schmerzliches Er­lebnis. Die Zukunft schien mit düstern Schleiern verhangen. Sie widerstanden aber der Versuchung nach Frankreich auszuwandern. Ihr Werk stand ja materiell und geistig auf elsässischem Boden. Dem katho­lischen Landvolk des Elsass zu die­nen, war ihre Parole. In einem Zirkular an seine Brüder nahm der Gründer Stellung zu der Lage und erklärte, « Von der grössten beweg­ten Wichtigkeit ist, dass wir unsere ganze Energie und unseren Glauben aufbieten und uns in allem Ernst und angesichts der Ewigkeit daran erinnern, dass es für uns einen Titel gibt, der süsser ist als jeder andere: das ist der Titel eines Katholiken und eines Ordensmannes, der sich dem Dienste der Jugend geweiht hat. »
War es nicht ein Akt der Vor­sehung, dass Superior MERTIAN sich nicht an die befreundeten Frères de Marie des P. Chaminade ange­schlossen hatte? Da sich deren Mut­terhaus in Frankreich befand, wur­den diese Schulbrüder des Landes verwiesen und ihre Schulen geschlos­sen (Alumnat in St. Pilt und das Collège St-André in Colmar). Den neuen Machthabern bot sich keine Handhabe um dem Collège von Mat­zenheim, das offiziell « Institut St­ Joseph » hiess, ein ähnliches Los zu bereiten. Dessen erste Aufgabe be­stand nun darin, sich den im Reich gültigen Schulsystem einzufügen. Die Möglichkeit war durchaus gegeben, da die deutsche Schulverwaltung grossen Wert auf die sogenannten « Mittelschulen » legte, die den lee­ren Raum zwischen den Volks- und den Sekundarschulen ausfüllen und die Bildung eines « Mittelstandes »zum Ziele haben sollten. Entsprach dies nicht dem Ideal, das sich Frère MERTIAN von erster Stunde an ge­stellt hatte? Dass der deutschen Spra­che die Vorherrschaft zugesprochen werden musste, war für ihn keine Schwierigkeit, obwohl die sprach­liche Umstellung eines Lehrbetriebs sehr grosse Anstrengungen verlangt. Die Matzenheimer Schulbrüder hat­ten von jeher die Zweisprachigkeit gepflegt, um mit dem Volke in Be­ziehung zu bleiben. Wichtig war für sie nur, dass auch der französischen Sprache ein gewisser Raum zugespro­chen wurde. Da die deutschen Mit­telschulen das Erlernen einer Fremd­sprache vorsahen, war diese Möglich­keit durchaus gegeben. Das Matzen­heimer Collège machte sich einen Ehrentitel daraus, seinen Schülern eine Kenntnis der französischen Spra­che zu vermitteln, die weit über das Niveau des sonst im Elsass Gebote­nen hinausging. Dies war auch in Mülhausen der Fall, wo die Kongre­gation eine sehr gut besuchte und beliebte Brüderschule leitete. Sie ver­öffentlichte Lehrbücher der franzosi­schen Sprache, an die man später im Elsass mit Wehmut zurückdenken sollte.
 
 
Trotz dieser Leistungen gab es Schwierigkeiten mehr als genug während dieser Zeit. Lange Jahre war man der Zukunft nicht sicher, da die Lehrerlaubnis stets nur «für ein Jahr » erteilt wurde. In den Fra­gen der Lehrer-Diplôme, der Lehrbücher, des Studienplanes und der Inspektionen nahm es die deutsche Schulbehörde sehr genau. Die herr­schende Geistesströmung des Libera­lismus brachte dem kirchlichen Schulwesen keinerlei Wohlwollen entgegen. Die grössten Schwierigkei­ten ergaben sich während der ganzen deutschen Zeit bei der Heranbildung der jungen Lehrbrüder. Diese muss­ten die staatlichen Lehrerseminare besuchen, an denen aber pro Jahr nur einige wenige zugelassen wur­den. Auf eine andere Weise war aber ein Lehrdiplom nicht zu erlangen.
 
 
Trotz dieser Widerwärtigkeiten hat die Kongregation tapfer durchge­halten. Das Collège von Matzenheim, zu dem die Schuler aus dem ganzen Lande, aus Lothringen und selbst der Schweiz strömten, hatte bald den Ruf einer musterhaft geleiteten Anstalt, die keinerlei Konkurrenz zu fürchten brauchte. Es bedurfte keinerlei Pro­paganda, um die 300 Schulplätze jährlich zu besetzen. Die Eltern wuss­ten ihre Kinder in guter Hand. Sie konnten darauf zahlen, dass diese auf der Grundlage eines echt katholi­schen Lebens zu Sittsamkeit und Fleiss erzogen wurden und das Wis­sen empfingen, das man füglicher­weise von einer guten Mittelschule erwarten durfte. Ein wirklicher Fa­miliengeist umschloss Schüler und Lehrer, wie es der 1890 verstorbene Gründer von Anfang an verlangt hatte. Viele Schüler kamen, um ihr Wissen auszuweiten und um Franzö­sisch zu lernen. In jahrzehntelanger Arbeit war Matzenheim eine der ersten und beliebtesten Schulen des Landes geworden. Ehemalige Schüler befanden sich in Verwaltung und Industrie, in den landwirtschaftlichen Genossenschaften, als Maires oder Sekretare der Gemeindeverwaltun­gen, in dem damals aufblühenden Vereinswesen an ehrenhaften und einflussreichen Stellen. Die Saat wel­che die Leiter des Collège, die Frères, Mertian, Sitzmann, Hilaire, Fran­çois, Raymond, Felix ausgestreut hatten, war nicht auf ertraglosen Bo­den gefallen. Seit 1906 bilden die ehemaligen Schüler eine Amicale, die mit dem Collège enge Verbindung hält.
 
Die Rückkehr des Elsass zu Frank­reich im Jahre 1918 weckte neue Hoffnungen und neue Sorgen und bedingte zunächst eine erneute Um­stellung des gesamten Lehrbetriebs. Man war berechtigt, dem damals noch agressiven Laizismus einiges Misstrauen entgegenzubringen und um die Zukunft der kirchlichen Lehr­orden Besorgnis zu hegen. Diese ernste Sorge wurde behoben, als das gläubige Elsass sich 1924 dem Laizis­mus in eindrucksvoller Geschlossen­heit entgegenstellte. Die Schule von Matzenheim erhielt die Rechtsstel­lung einer Ecole libre, die ohne staat­liche Zuwendung, doch auch ohne interne Kontrolle ihre Schüler auf -die verschiedenen Brevets vorberei­ten konnte. Die französische Unter­richtsverwaltung förderte den Aus­bau der Ecoles primaires supérieures, die in etwa dem Typus der Mittel­schulen in Deutschland entsprachen. Hier fand das Matzenheimer Collège seinen selbstverständlichen Platz und füllte ihn mit Energie und Geschick aus, zur Zufriedenheit der Behörden und der Eltern.
 
 
Das Studium der französischen Sprache war früher so entschieden bei Lehrern und Schülern betrieben worden, dass man in diesem Punkte keinen allzu grossen Schwierigkeiten begegnete. Das Collège kann es sich aber heute, da der turbulente Natio­nalismus überwunden ist, zur Ehre anrechnen, dass es auch dem deut­schen Sprachunterricht ernste Be­mühungen zuteil werden liess. Das Ideal seines Gründers wirkte auch in diese Zeit hinein. Die Frères de Matzenheim waren zu nahe dem Volk verbunden, als dass sie sich auf die Seite eines einseitigen Fanatismus hatten stellen können. Wie sie früher der französischen Sprache mehr als die strikten Stunden des Schulplanes zugestanden hatten, so liessen sie jetzt der deutschen Sprache nicht die Behandlung eines Aschenbrödels zu­teil werden. So wahrten sie ihren Ruf als wirkliche Volkserzieher.
 
 
Der zweite Weltkrieg und die fak­tische Angliederung des Elsass an das vom Nationalsozialismus beherrschte Deutsche Reich brachte der Matzen­heimer Kongregation und ihrem Collège — wie es zu erwarten war — die härtesten aller Prüfungen, die sie je zu bestehen hatten. Beim Heran­nahen der Gefahr hatte der fürsorg­liche Superior Frère Felix das Novi­ziat von Ehl nach Innerfrankreich verlegt. Nach der Besetzung des Lan­des wurde die Schule, als den Planen des Dritten Reiches nicht entspre­chend, geschlossen. Hätte man an die Zukunft des Dritten Reiches ge­glaubt, so wäre nichts übrig geblie­ben, all dies als den Schlusspunkt einer ehrenvollen Entwicklung zu betrachten. Da aber niemand daran glaubte, galt es nur, den bösen Traum zu überleben und das Ge­bäude, das zumeist als Militärlazarett diente, und die Einrichtungen der Anstalt für eine bessere Zukunft zu bewahren. Frère Felix besorgte dies mit all seiner Autorität und Klug­heit, wie es Frère Adrien für die ebenfalls geschlossene Schule von Mülhausen tat.
Sollten sie auch wie die nach In­nerfrankreich geflüchteten Brüder lange Jahre auf das Ende dieser Prüfung warten müssen, im Frühjahr 1945 schlug endlich die Stunde der Befreiung. Wer als Mitglieder der geistigen Familie zu Matzenheim ge­hörte, sammelte sich wieder zu neuer Tat. Nach der Wiederherstellung der beschädigten Gebäude öffnete das Collège im Herbst 1945 von neuem seine Pforten. Da die französische Schulverwaltung keine Ecoles Pri­maires Supérieures mehr kannte, be­kam die Anstalt die Bezeichnung und den Lehrplan eines « Collège Mo­derne ». Nach der langen Unterbre­chung war doch alles neu zu organi­sieren. Doch es gab keine allzu grossen Schwierigkeiten der Umstel­lung. Die Leistungen einer Schule werden im Grunde nicht von den wissenschaftlichen Forderungen be­stimmt, die man an sie stellen mag, sondern von dem allgemeinen Er­ziehungsideal, dem sie huldigt, von dem Geist, der in ihr lebt, von der pädagogischen Erfahrung, der ihr zur Verfügung steht, und dem Ni­veau, der an ihr wirkenden Lehrer.
 
Im Collège von Matzenheim war dies alles auf das Beste bestellt. Ja, es hatte den Anschein, als ob die Kon­gregation die lange Ruhe — und Wartepause während des Krieges nur benützte, um neue Energie zu sam­meln. Der frühere Obstgarten gab (1960) Raum für ein neues, impo­santes Schulgebäude, das jetzt den oberen Klassen Schul- und Wohn­raume bietet. Jenseits der Dorfstrasse erhebt sich seit 1956 der Prachtbau eines neu angelegten, modernen Ju­venates. Matzenheim ist heute nun nicht nur Sitz eines Collège, sondern Residenz und Mutterhaus der Kon­gregation. Im benachbarten Ehl, das früher als Juvenat diente, stehen jetzt die Pavillons einer Erziehungsanstalt für gefährdete Knaben.
 
Als Superior Eugène MERTIAN im Jahre 1862 mit seinen Brüdern in die altertümliche Wirtschaft « Zu den zwei Schlüsseln » einzog, machte er sich gewiss, wegen der Enge des Hau­ses, Zukunftspläne grösserer Art. Er konnte aber nicht ahnen, dass er sein geplantes Collège in den Wirrwarr eines nicht mehr zur Ruhe kommen­den Jahrhunderts hineinstellte. Er ahnte nicht, dass seine Nachfolger immer wieder zu neuen Umstellun­gen und Anpassungen gezwungen sein wurden. Er wusste aber, dass sein Werk auf der Grundlage des christlichen Glaubens errichtet war und dass er seine Nachfolger durch das Gottvertrauen, die Opferbereit­schaft und den Mut, die er ihnen vor­lebte, instand setzte, alle geschichtlich bedingten Prüfungen zu über­stehen.
 
Ueberblickt man rückschauend die seither verflossenen hundert Jahre, dann ist man nicht wenig darüber erstaunt, dass das Matzenheimer Col­lège nur wenig Auf und Ab in seiner Entwicklung kennt. Es erlebte kaum merkliche Schwankungen in seiner Schülerzahl. Diese blieb ungefähr immer auf gleicher Höhe. Da sämt­liche Plätze jeweils besetzt waren, stellte sich mehrfach die Frage einer Erweiterung des Schulbetriebs. Diese blieb jedoch unberücksichtigt, und zwar nicht mit Unrecht, da bekannt­lich ein Internat mit einer allzu grossen Zahl von Zöglingen nicht mehr jenen Familiengeist pflegen kann, der dem Matzenheimer Collège von jeher sein Gepräge gab.
 
Auf der Ebene des sozialen Milieus ist mit dem zweiten Weitkrieg in Be­zug auf die Herkunft der Schüler, eine leichte Verschiebung eingetre­ten. Kamen diese vorher zumeist aus bäuerlichen Kreisen, so bilden heute die Söhne von Gewerbetreibenden und Beamten, vielfach aus Städten, die Mehrheit. Der Jugend vom Lande sind heute mehr Möglichkeiten zu ihrer beruflichen Weiterbildung ge­geben, als dies früher der Fall war.
 
Nicht unbemerkt dürfte hier blei­ben, dass die zur Zeit in Gang ge­setzte Schulreform, die heute allen Kindern bis zu 16 Jahren Gelegen­heit zu einer weiteren beruflichen Ausbildung geben will, ganz dem entspricht, was seiner Zeit, der weit vorausblickende Stifter Superior Eugène MERTIAN schon für die Land­jugend anstrebte.
 
Das Ideal, das er vor hundert Jahren seiner Anstalt setzte, wird auch weiterhin in unserer heutigen, ungestüm vorwärtsdrängenden Zeit seinen Platz behaupten. Ein Jugend­licher wird ein grösseres Fachwissen nur dann fruchtbringend verwerten können, wenn er zugleich eine sichere Allgemeinbildung und eine charakterfeste Erziehung erhalten hat. Gehören doch gerade diese welt­anschaulichen Elemente zur « Pro­motion des Jeunes », zur Entfaltung einer Jugend, die morgen der Stolz und die Zukunft unseres Landes sein soll, und zu deren Heranbildung das Collège von Matzenheim seit hundert Jahren einen wertvollen Beitrag ge­liefert hat.
Abbé Joseph Zemb, Ancien du collège.